Mittwoch, 17. Juli 2013

Interview über die aktuelle Situation in der Türkei, von Safiye Can, Dichterin und Autorin aus Deutschland

Safiye Can im eXperimenta Gespräch mit Rüdiger Heins  über die aktuelle Lage in der Türkei

„De facto ist die Türkei ein Polizeistaat. Führten wir dieses Gespräch in der Türkei,
würde man uns verhaften und eXperimenta müsste schließen.“

eXperimenta: Frau Can, wie schätzen Sie die augenblickliche Lage in der
Türkei ein?

Safiye Can: Die momentane Lage ist sehr explosiv. Die türkische Bevölkerung
ist in zwei verfeindete Lager geteilt. Erdoğans aggressive Wortwahl und seine
Borniertheit hat die Wut der Menschen auf ihn und seine Partei gesteigert.
Erdoğans Anhänger helfen der Polizei, indem sie mit Schlagstöcken und
Macheten unbewaffnete Demonstranten jagen. Der Polizei kommt das gelegen.
Die Widerständler sind aber nicht einzuschüchtern und sie sind sehr kreativ. Eine
ihrer Waffen ist die Ironie. Ironie setzt Intelligenz voraus.


eXperimenta: Welche Gründe gibt es, dass so viele Menschen in der Türkei
gegen die Regierung demonstrieren?

Safiye Can: Es gibt sehr viele Gründe. Eben dies sorgte dafür, dass Menschen,
die sich normalerweise aus dem Weg gingen oder sich untereinander bekriegten,
heute Seite an Seite Widerstand leisten. Verfeindete Fußballmannschaften laufen
Arm in Arm, Konservative laufen neben Transsexuellen, Atheisten und Muslime
zeigen einander mehr Respekt. Aufgrund der Notsituation haben die Menschen
mehr denn je Verständnis füreinander. Zeitweise hatte ich das Gefühl, meine
Kurzgeschichten werden wahr. Wie unterschiedlich die Menschen auch sind, sie
haben am eigenen Leib erfahren müssen, was es bedeutet, wenn die Freiheit
eingeschränkt wird und wie manipulativ Medien tatsächlich sind.
Die Menschen wollen ihre Freiheit, wir alle wollen sie. Dazu gehört nun einmal
auch die Meinungsfreiheit. Der Ministerpräsident Erdoğan hat sich viel zu viel
erlaubt und allzu viel haben die Menschen erduldet. Dann reichte bloß noch
ein Tropfen, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Dieser Tropfen war die
unverhältnismäßige Gewalt der Polizei gegen friedliche Demonstranten im GeziPark, die den Park behalten und die Gründung eines Einkaufszentrums verhindern
wollten. Eine Frau wurde aus nächster Nähe mit einer Gaspistole attackiert,
Menschen wurden im Schlaf mit Gaspatronen angegriffen und ihre Zelte wurden
in Brand gesetzt. Dieses brutale Vorgehen trieb die Menschen auf die Barrikaden.
Hierzulande wunderte man sich zeitgleich, weswegen es so viel Tumult wegen
„ein paar“ Bäumen gab. Freilich stehen diese Bäume auch für sich als Bäume
und auch dieser Park hat eine Geschichte, aber die Bäume repräsentieren mehr,
sie wurden zum Symbol für die Grundrechte der Menschen, für die Demokratie
in der Türkei, sie stehen für alle bisher ermordeten, verschollenen, misshandelten
und zu Unrecht inhaftierten Menschen, darunter viele junge Menschen, auch
viele Autoren, unzählige Dichter.

eXperimenta: Was muss sich verändern, damit es zu einem guten Ende
kommt?

Safiye Can: Erdoğan wird sich nicht ändern, so viel steht fest. Es gibt allen voran
drei Menschen, die aus ihrem Amt gehen müssen. Der Ministerpräsident Tayyip
Erdoğan, der Oberbürgermeister von Ankara, Melih Gökçek und der Gouverneur
von Istanbul, Hüseyin Avni Mutlu. Erdoğan müsste sich entschuldigen und
zurücktreten. Er müsste öffentlich eingestehen, dass seine provokanten Reden
der falsche Ansatz waren. Sechs Menschen sind gestorben, Tausende wurden
verletzt. Allein das ist schon Grund genug für einen Rücktritt. Die Bilder sind
erschreckend.

eXperimenta: Auf Facebook und Twitter haben Sie Accounts eingerichtet, um
auf die Unruhen in der Türkei aufmerksam zu machen. Welche Reaktionen gibt
es?

Safiye Can: Einen Facebook-Account hatte ich bereits. Bis zum 1. Juni 2013
habe ich, wie viele Autorenkollegen auch, bis auf einige Privatfotos eher literarische
Ankündigungen gemacht. Mit dem 1. Juni hat sich mein Benutzerverhalten
schlagartig geändert. So erging es vielen Türkischsprachigen, die den Bezug zu
ihrem Land nicht verloren haben. Nichts war abgesprochen, alle wussten intuitiv,
was zu tun ist. Möglichst Wichtiges möglichst schnell übersetzen und posten.
Interessanterweise wurden manche meiner Posts und Notizen gelöscht.
Einige in meiner Liste waren genervt, weil es natürlich einfacher ist, sich eine
heile Welt anzuschauen. Ich nahm an, dass sich meine „Freundesliste“ halbieren
würde. Dies trat aber nicht ein. Ich erhielt auch Zuspruch von ganz tollen
Menschen und neue „Freunde“ kamen hinzu. Einige bedankten sich für die
Information und waren teilweise darüber empört, dass man in den deutschen
Medien gar nicht oder erst spät darüber berichtete. Man weiß natürlich nicht,
was genau in den Menschen vorgeht. Es ging mir aber auch gar nicht um eine
bestimmte Reaktion. Ich wollte, dass alle in meiner Liste und auch alle anderen,
die irgendwie auf meine Seite gelangten, über die Lage Bescheid wussten. Und
sie wissen Bescheid.

eXperimenta: Worin sehen Sie den Unterschied zwischen Facebook und
Twitter?

Safiye Can: Ich kann das nicht beurteilen, weil ich keine Twitter-Nutzerin
bin. Ich habe mir erst wegen der Unruhen einen Twitter-Account eingerichtet.
Das muss man sich mal vor Augen führen: Um richtige Informationen über
die Situation in der Türkei zu erlangen, habe ich mich bei Twitter angemeldet.
Denn im türkischen Fernsehen ist immer noch alles zensiert. Auf Facebook
konnte ich zeitnah am Geschehen übersetzen und posten. Später entstanden
Gruppen wie „Halte durch, Türkei“, in der sich Menschen zusammen fanden,
die für alle Deutschsprachigen gemeinsam ins Deutsche übersetzten. Das
war sehr hilfreich für die Einzel-Übersetzer. Wir alle, auf Twitter oder Facebook
haben unser Bestes getan, damit man die Lage begreift. In der Türkei werden
Menschen schwer verletzt. Bei manchen Mitteilungen kommt es darauf an, dass
sie sofort übertragen werden. Handynummern von Rechtsanwälten, Ärzten
und Medizinstudenten zum Beispiel. Oder über welche Straßen die Menschen
nicht flüchten sollten, weil sie dort die Polizei erwartet. Ich denke für die letzten
Beispiele ist Twitter vorteilhafter.

eXperimenta: Sie sind Dichterin, leben hier in Deutschland und
haben einen türkischen Migrationshintergrund. Wie sind Sie Dichterin
geworden?

Safiye Can: Bei künstlerischen Berufen ist es schwer, das wie
oder wann ausfindig zu machen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob
man zu einer Dichterin wird. Also ob das eine Sache des Werdens
ist. Ich weiß aber, dass dem Dichter eine bestimmte Sensibilität
und Empfänglichkeit innewohnt. Eine bestimmte Veranlagung oder
Neigung sollte vorhanden sein. Alles Weitere ist dann harte Arbeit, vor
allem am Text.

eXperimenta: Sind Sie der Meinung dass es in der Türkei immer
noch Menschenrechtsverletzungen gibt?

Safiye Can: Zweifelsohne. Bei „immer noch“ müssen wir allerdings
vorsichtig sein. Es gibt genug Beispiele dafür, dass die Zeit allein nicht
ausschlaggebend für einen Fortschritt in einem Land ist. Manchmal
und nicht selten gibt es auch Rückschritte, wie zum Beispiel im Iran.
Die Türkei belegt einen Spitzenplatz weltweit, was die Inhaftierung
regierungskritischer Journalisten betrifft – noch vor Irak und China.
Demonstranten werden von Anti-Terror-Einheiten der Polizei verhaftet,
weil sie Erdoğan auf Facebook und Twitter kritisiert haben. Die
Polizeibrutalität der letzten Wochen spricht Bände. De facto ist die
Türkei ein Polizeistaat. Führten wir dieses Gespräch in der Türkei,
würde man uns verhaften und eXperimenta müsste schließen.
eXperimenta: Die Polizei hat auch Demonstranten erschossen. Es
gibt viele verletzte Menschen. Warum versucht die Regierung Ihrer
Meinung nach nicht, mit den Demonstranten in einen friedlichen
Dialog einzutreten?

Safiye Can: Diktatoren haben eines gleich: Sie treten nicht freiwillig
zurück. Selbst eine Entschuldigung würden sie als Machtverlust
ansehen. Geld- und Machtbesessenheit ist eine grausame Krankheit;
Einsicht oder Mitgefühl existiert hier nicht. Der einzige Dialog, der
seitens der Regierung stattfinden würde, wäre eine inszenierte Show.
Stattdessen sind die Widerständler im Dialog, sie treffen sich in Parks,
bilden Foren, melden sich zu Wort, um sich auszutauschen. Die verschiedenen Aktionen sind sehr beeindruckend.

eXperimenta: Wahllos werden Demonstranten verhaftet, Rechtsanwälte, die Demonstranten vertreten, kommen auch ins Gefängnis.
Ist das das Ende des Rechtstaates Türkei?

Safiye Can: Die Menschen trauen der türkischen Justiz nicht mehr.
Allein das ist eine Bankrotterklärung des Rechtsstaates. Wenn
Menschen willkürlich und auf manipulierten „Beweisen“ basierend
verhaftet und angeklagt werden, existiert längst kein Rechtsstaat
mehr.

eXperimenta: Ist die Türkei auf dem Weg zurück in die Militärdiktatur?
Safiye Can: Nein, denn Erdoğan hat das Militär entmachtet. Aber
dafür wurde der Polizeiapparat weiter ausgebaut. Anti-Terroreinheiten
der Polizei mit erweiterten Befugnissen und sogenannte
„Staatsanwälte mit Sonderrechten“ zeugen eher von einem
Polizeistaat als von einer Militärdiktatur. Fragt sich, was das
kleinere Übel ist.

eXperimenta: Wie steht es um die Gleichberechtigung der
Frau?

Safiye Can: Frauen werden von Erdoğan und seiner AKP oft
thematisiert. Auf Kosten der Frauen wird Polemik betrieben.
Themen wie die Kopftuchdebatte, Abtreibung, die klassische
Rolle der Frau als Mutter bis hin zu der Anzahl an zu gebärenden
Kindern führen oft zu erbitterten Diskussionen innerhalb der Bevölkerung.
In Bingöl wurde ein 16-Jähriges Mädchen von vier Offizieren vergewaltigt, kürzlich
erhielten wir die Meldung, dass die Männer freigelassen wurden. Erdoğan vertritt
auch die Ansicht, dass vergewaltigte Frauen nicht abtreiben sollten. Der Staat, so
schlug er vor, würde sich um diese Kinder kümmern. Auch ein Grund, weswegen
die Menschen die Nase gestrichen voll haben von dem Ministerpräsidenten,
dessen geistiger Gesundheitszustand alles andere als normal wirkt.

eXperimenta: Welche Hilfestellung erwarten Sie von Europa?

Safiye Can: Im Fall von Europa scheiden sich die Geister. Die Europäer sind nicht
unschuldig an der momentanen Situation. Menschenrechtsverletzungen, Zensur
und eine willkürlich agierende Justiz wurden von den Europäern gerne übersehen.
Man pflegte gute Beziehungen zu Erdoğan, denn wirtschaftliche Interessen
waren vorrangig. Gleichzeitig hält man die Türkei aber seit Jahrzehnten hin, was
den EU-Beitritt betrifft. Wenn sich ein großer Teil der türkischen Bevölkerung nun
zunehmend dem Osten und dem konservativen Islam zuwendet, dann haben
die Unentschlossenheit und das scheinheilige Verhalten Europas maßgeblich
dazu beigetragen. Europa könnte sehr wohl den Druck auf Erdoğan erhöhen.
Für Politiker ist es fatal, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit und
ihr Ansehen im Ausland verlieren, da sie sich somit auf
weltpolitischer Bühne isolieren würden. Das wissen alle Länder
und könnten dementsprechend agieren. Aber auch wir, jeder
einzelne von uns kann etwas tun. Wir dürfen nicht schweigen,
nicht nur im Bezug auf die Türkei. Die Welt gehört uns allen und
was in Geschichtsbüchern steht und vor allem auch stehen
wird, ist unsere gemeinsame Geschichte.

eXperimenta: Versuchen Sie als Autorin die augenblickliche
Situation in der Türkei literarisch zu verarbeiten?

Safiye Can: Ja, ich habe eine Arbeit im Bereich Konkreter Poesie auf meine
Website gestellt. Später werden Gedichte folgen. Ich gehöre zu denen, die aus
dem Brennpunkt der Situation heraus nicht schreiben können, sondern erst
innerlich sammeln und verarbeiten müssen. Die Wut, die Sorge um die Menschen
und die Enttäuschung müssen erst ablassen, bevor ich mich auf ein solches
Werk einlassen kann. Noch habe ich die Distanz nicht und bin zu aufgebracht.
Die Zeit ist ein maßgebliches Element, das sich Autoren auch nehmen sollten.
Man muss den Dingen versuchen, gerecht zu werden. Das Schweigen aber, vor
allem von Autoren, ist falsch. Wir müssen Farbe bekennen.

eXperimenta: Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

Safiye Can: Ich war Schülerin und gerade in den Sommerferien
in Samsun, in der Türkei, und bekam meinen ersten Gedichtband
zum Geburtstag. Er war von einem türkischen Dichter namens
Ümit Yaşar. Das Buch steht jetzt neben sehr vielen anderen
Lyrikbänden in meiner Bibliothek. So fing ich an.

eXperimenta: Gibt es Zukunftspläne für eine Rückkehr in die
Türkei?

Safiye Can: Das ist eine Option, die ich mir freihalte. Aber
Zukunftspläne gibt es bei mir generell nicht. Ich bin froh, wenn
ich die Deadlines dieser Woche einhalten kann.
eXperimenta: Vielen Dank für das Gespräch

Das Interview mit Safiye Can führte Rüdiger Heins (PDF Ausgabe der Experimenta, mit dem Interview
)
Website der Autorin: www.safiyecan.de

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